Beitrittsbeschluss vor 30 Jahren - Blankenfelder erinnert sich: Der Tag, an dem sich die DDR abschaffte

Vor 30 Jahren stimmte die Volkskammer auf einer denkwürdigen Sondersitzung für den Beitritt zur Bundesrepublik. Mit dabei war der Blankenfelder Eberhard Goldhahn. Heute sagt der 93-Jährige: „Mit so einem schnellen Beitritt haben wir nicht gerechnet.“

 „Im Moment fährt der Zug der Wiedervereinigung durch unseren Bahnhof – wenn wir jetzt nicht aufspringen, wissen wir nicht, ob und wann es noch mal möglich ist.“ An diese blumige Aussage Helmut Kohls im Sommer 1990 erinnert sich Eberhard Goldhahn noch lebhaft. Der Mann aus Blankenfelde (Teltow-Fläming), der heute 93 Jahre alt ist, wirkte vor 30 Jahren nämlich daran mit, dass dieser Aufsprung auf den Wiedervereinigungszug gelang.

Es war am 23. August 1990, als die zehnte und letzte Volkskammer der DDR mit 294 Ja- gegen 62 Nein-Stimmen bei sieben Enthaltungen dem „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland … mit Wirkung vom 3. Oktober 1990“ zustimmte. Mit diesem Beschluss hat sich die DDR abgeschafft.

Mehr als ein Dutzend Daten im Gespräch

In der Sondersitzung, die Ministerpräsident Lothar de Maizière (CDU) tags zuvor erst beantragt hatte, ging es nicht mehr um das „ob“ eines Beitritts, sondern um das „wann“. Mehr als ein Dutzend verschiedener Daten waren im Gespräch. Ein Antrag der DSU (Deutsche Soziale Union) pochte auf einen sofortigen Beitritt. Ein Antrag aus dem CDU-Lager favorisierte dagegen den 14. Oktober 1990.

Es war Günther Krause, der spätere Verkehrsminister und Unternehmer, der als Vorsitzender der Fraktion von CDU/DA (Demokratischer Aufbruch) den 3. Oktober als frühestmöglichen Termin ins Spiel brachte. Begründung: Dann seien die Verhandlungen über die äußeren Aspekte der Wiedervereinigung im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Gespräche abgeschlossen.

„Mit so einem schnellen Beitritt haben wir nicht gerechnet“

Einer, der damals leidenschaftlich in dieser Fraktion und im Volkskammerpräsidium mitstritt, war Eberhard Goldhahn. Er war von der CDU, der er seit 1947 angehörte, für den Bezirk Potsdam als Kandidat nominiert worden. „Wir wollten zuerst noch vorsichtige Reformen in der DDR, mit so einem schnellen Beitritt haben wir nicht gerechnet“, sagt er heute. Doch nationale und internationale Ereignisse holten sie ein. Die Wirtschaft stand vor dem Kollaps, das wusste der promovierte Jurist und Ökonom nur zu gut. Die Bürger kehrten dem Land in Scharen den Rücken.

Goldhahns Ortsverband war schon vor der Wende rührig – und unzufrieden: „Als die Unruhen in der Bevölkerung 1989 begannen, schrieben wir an unseren Vorsitzenden Gerald Götting, dass wir uns endlich abgrenzen müssten von der Diktatur und Reisefreiheit für alle wollten“, erinnert er sich heute. Eine Antwort aus Berlin kam nie. So übernahm Goldhahn, der an der Humboldt-Uni lehrte, als Abgeordneter ab April 1990 Verantwortung.

31 Ampeln zwischen Verhandlungssaal und Blankenfelde

Der Beitrittsbeschluss zum 3. Oktober kam nach einer turbulenten, immer wieder für Fraktionsberatungen und interfraktionelle Gespräche unterbrochenen Debatte zustande. Vorausgegangen waren unzählige Sitzungen und Gespräche im Präsidium und den Ausschüssen der Volkskammer sowie in den Fraktionen mit ihren Arbeitskreisen und den Parteigremien.

Bei diesen Vorabstimmungen stieg Eberhard Goldhahn in Berlin selten vor Mitternacht in sein Auto. 31 Ampeln, daran erinnert er sich noch genau, trennten ihn von der kurzen Nachtruhe in Blankenfelde. Wichtig seien die Verhandlungen mit dem Ausland gewesen, sagt er. Das Erstarken Deutschlands durch eine mögliche Wiedervereinigung rief nicht nur bei den vier Siegermächten Befürchtungen wach, die es rasch zu entkräften galt.

Nach London zu Margaret Thatcher

So flog Eberhard Goldhahn mit einer Parlamentariergruppe nach London, um mit dem außenpolitischen Ausschuss des Unterhauses über einen Beitritt zu sprechen. Die damalige Premierministerin Margaret Thatcher hat er in dieser Frage als „sehr abwartend bis freundlich ablehnend“ in Erinnerung.

Die geopolitische Lage war heikel: Gorbatschow kämpfte in der Sowjetunion um sein politisches Überleben, am Persischen Golf drohte nach dem Einmarsch Saddam Husseins in Kuwait ein neuer Krieg. „Deutschland blieb keine Zeit für lange Geschichten“, fasst der Historiker Stefan Marx die Situation zusammen, in der man die Chance der Wiedervereinigung ergreifen wollte.

Tonbandaufzeichnungen als historischer Schatz

Marx arbeitet für die Konrad-Adenauer-Stiftung die Protokolle der CDU/DA-Fraktion in der Volkskammer 1990 auf. Die Tonbandaufzeichnungen sind ein historischer Schatz. „Es ist so spannend, alle möglichen Szenarien der Wiedervereinigung zu verfolgen“, erklärt Marx. Zwei Meter Aktendeckel plus Transkripte der Sitzungsbänder werden von ihm für das Projekt gesichtet, abgehört, eingeordnet und bewertet.

Die entscheidende Sitzung der Volkskammer 1990 hat der gebürtige Rheinländer bei seinen Verwandten in Schwedt am Fernsehen verfolgt. Und mitgejubelt, als Parlamentspräsidentin Sabine Bergmann-Pohl (CDU) um 2.47 Uhr das Ergebnis verkündete. Marx’ Hochachtung für die Leistung der Abgeordneten ist groß. Sie seien schließlich sofort ins kalte Wasser geworfen worden und hätten keine 100 Tage Einarbeitungszeit gehabt.

164 Gesetze und 93 Beschlüsse in knapp sechs Monaten

Das Parlament das sich selbst mit seinem Beschluss abschaffte, bestand überwiegend aus politischen Laien. Dennoch bewegte es für die Bürger in enthusiastischer, streitbarer, kreativer und leidenschaftlicher Arbeit unendlich viel: „164 Gesetze und 93 Beschlüsse in knapp sechs Monaten auf den Weg zu bringen, ist eine unfassbare Leistung“, so Stefan Marx.

Wichtig waren die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion mit der Bundesrepublik, die Wiedereinführung der 1952 abgeschafften Länder sowie die Klärung des Umgangs mit sechs Millionen Stasi-Akten.

Eberhard Goldhahn ist stolz darauf, an der Wiedervereinigung mitgebaut zu haben. Er hat nicht mehr für das erste gesamtdeutsche Parlament kandidiert. Doch bis heute ist er politisch interessiert, kritisch und seiner Partei treu. „Die Ereignisse 1990 waren eine gute Fügung für unser Land“, sagt er.

Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung, 23.08.2020